Home oder Office?

Auch sorgfältig gepflegte Vorurteile werden von Krisen manchmal weggefegt. Galt die Arbeit im Home Office gestern noch als der dreiste Versuch, sich ganz legal davon zu machen, ist sie heute schon zu einer akzeptierten Arbeits- und Lebensform geworden. Allerdings nicht unbedingt auf freiwilliger Basis. „Wohnhaft bekommt einen neuen Sinn.“ stellt Gabor Steingart trocken fest.

Kaum fummelt die halbe Nation in Videokonferenzen hektisch an ihren Laptops herum, weil - verdammt nochmal! - Bild und Ton doch auch gleichzeitig möglich sein müssen … da wird schon die zentrale Herausforderung der Heimarbeit sichtbar. Nein, es ist nicht die ungewohnte Nähe zum Ehepartner. Es ist der kalte Entzug, den die verantwortlichen Führungskräfte spüren.

Bei Aufzählung der Suchtkrankheiten, unter denen unsere Gesellschaft leidet, wird nämlich eine Variante meist diskret unterschlagen: die Kontrollsucht. Legionen von Führungskräften habe sich darin perfektioniert, keine Regung der ihnen Anvertrauten aus dem Auge und kein Arbeitsergebnis unkorrigiert zu lassen. Sie sind geübt darin, en détail zu führen. Keine Abweichung von den fest in ihrem Gehirn installierten Mustern entgeht ihnen. Jahrzehnte waren sie davon überzeugt, dass ihr Atem im Nacken der Mitarbeiter ihren Willen zu fachlicher Qualitätssicherung beweist - und nun dies! Alle sind auf einmal irgendwie weg. Man sieht nur noch verschwommene Brustbilder und selbst das, was die Mitarbeiter während einer Videokonferenz mit ihren Händen machen, bleibt unklar!

Wer als Führungskraft bisher mit dem beruhigenden Gefühl durch den Tag ging, alles unter Kontrolle zu haben, starrt jetzt nägelkauend vor sich hin und hängt dunklen Phantasien über Stechuhren im Remote-Modus und abendlichen Rapport-Sitzungen nach. Selbst stündliche Überraschungsanrufe helfen nicht recht, wenn sie nur darauf hinauslaufen, dass gut gelaunte Mitarbeiter einem sedierende Erläuterungen ins Ohr flüstern, während man das untrügliche Gefühl hat, dass sie mit ihrer Aufmerksamkeit ganz woanders sind.

So empfiehlt sich am Ende die Flucht nach vorn. Wer eine Bewegung nicht aufzuhalten vermag, kann sich immer noch an ihre Spitze setzen. Mit dem tapferen Bekenntnis, zum Beispiel, volles Vertrauen in die Kolleginnen und Kollegen zu haben! Der zuversichtlichen Bekundung, dass sie schon alles in rechter Weise handhaben und erledigen werden! Der nachdrücklich betonten Hoffnung, dass sie die Erwartungen, die man in sie setzt, nicht enttäuschen werden! Vielleicht noch garniert mit der beiläufigen Erwähnung des Schicksals von Kollegen, die glaubten, die Großzügigkeit ihrer Vorgesetzten ausnutzen zu können - und so weiter. Nur der Satz, dass man sich Vertrauen „verdienen“ müsse, passt nicht mehr so recht in die Zeit. Dafür geht jetzt alles viel zu schnell.

Aber im Ernst: Vertrauen erweist sich jetzt tatsächlich in dem Mut, anderen etwas zuzutrauen, Potenziale zu erkennen, wo man auch Defizite sehen könnte. Richtig gute Chefs trauen ihren Mitarbeitern schließlich mehr zu, als diese sich selbst. Sie übertragen Verantwortung und lassen los. Was leichter klingt, als es ist. Vielleicht erwischt sich der eine oder die andere bei der zwanghaften Wiederholung von Fragen wie: Was zum Teufel treiben die Leute genau zu Hause? Womöglich machen sie eine Menge unproduktives Zeug in ihrer Arbeitszeit? Oder sie surfen im Internet oder starren aus dem Fenster oder hängen an der Kaffeemaschine rum? Dann tut es gut, sich daran zu erinnern, dass sie all das auch im Unternehmen stets getan haben, weil wir es nämlich alle tun und auf einmal fällt einem auf, wie leichtfertig man doch Anwesenheit mit Arbeitseinsatz und Präsenz mit Produktivität gleichgesetzt. Toll, was man in der Krise auf einmal alles lernt!
Es gibt einen Paradigmenwechsel, der beim Loslassen helfen kann. Juristen unterscheiden feinsinnig zwischen einem Dienst- und einem Werkvertrag. Beim ersteren schulde ich eine Leistung, unabhängig davon, zu welchem Ergebnis sie führt. Im zweiten Fall garantiert „der Auftragnehmer dem Auftraggeber“, dass die Aufgabe im Sinne definierter Erfolgskriterien abgeschlossen wird. Wie auch immer er das zuwege bringt. Der Werkvertrag vereinbart ein Ergebnis, nicht den Aufwand, der dafür zu treiben ist. Klingelt da was? Eine Werkvertrag ist die perfekte Grundlage für die Arbeit im Home Office! Welches Ergebnis liegt bis wann vor? Mehr muss nicht geklärt werden! Es braucht kein Nachhalten der Arbeitszeit, keine tägliche Fortschrittskontrolle, keine Gedanken darüber, wer welche Zeit wie nutzt oder vertrödelt. Kontakte mit Bild & Ton dienen fortan nicht mehr der Kontrolle, sondern der sozialen Beziehungsqualität. Ansonsten genießen beide Seiten - Führende und Geführte - maximale Freiheitsgrade.
Ach ja, natürlich hat jede Freiheit ihren Preis. Wer Chefin oder Chef nicht mehr in der Kaffeeküche oder Kantine ansprechen kann, muss der eigenen Urteilsfähigkeit vertrauen. Und wer kein Team mehr hat, mit dem man ein Thema so lange abrunden kann, bis alle Kanten weg sind, muss womöglich allein abwägen, wann alles bedacht ist und dann -  Himmel hilf! - selbst entscheiden!

Führungskräfte können das Home Office in diesem Sinne gezielt für die Entwicklung der Unternehmenskultur nutzen. Dafür müssen sie jedem, der im Home Office bleibt, eine individuelle Arbeitskultur zugestehen und sich so weit zurücknehmen, dass Raum für Entscheidungen entsteht und für die Entfaltung notwendiger Kompetenzen. Entgegen einer oft geäusserten Befürchtung, wird das Home Office dann nicht zu einer Erweiterung der Komfortzone, sondern zu der Herausforderung, (ungenutzte?) Ressourcen, wie Kreativität, Eigenverantwortung und Entscheidungsfreude zu aktivieren.
Im besten Fall trägt die unfreiwillige Isolation so zur Entwicklung von mehr Autonomie und auch Selbstbewusstsein bei. Und vielleicht sind es nicht zuletzt die damit verbundenen Erfahrungen, die das Arbeitsleben nach Corona verändern werden.

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