» Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es nochmal zu denken. « (J.W. Goethe)
Als Begleiter anspruchsvoller Veränderungsprozesse in Unternehmen, stossen wir immer wieder auf ähnliche Herausforderungen. Lassen sich daraus Erkenntnisse ziehen? Wir meinen: ja - und laden Sie ein, an unseren Überlegungen teilzunehmen. Nicht, um Sie zu belehren, sondern um Sie zur Reflexion Ihrer eigenen Erfahrungen anzuregen. Wir sind überzeugt: Nur wer als Führungskraft die eigene Rolle von Zeit zu Zeit reflektiert, stellt nicht allzu viel Unsinn an.
Die Texte in diesem Buch sind
- undogmatisch - denn wir geben Denkanstösse und verkünden keine Wahrheiten
- unabhängig - denn wir folgen nicht einer Methode oder Denkschule
- alltagstauglich - denn man kann die Texte gut zwischendurch lesen
- vorläufig - denn wir behalten uns vor, jederzeit zu neuen Erkenntnissen zu kommen
Frankfurter Allgemeine Buch, ISBN 978-3-96251-080-0, Bestellung über die Buchhandlung Ihres Vertrauens oder über Amazon.
Sachen machen
Okay, hier ist eine Empfehlung für Langstreckenleser: In seinem Buch Die Wiedergewinnung des Wirklichen entfaltet der amerikanische Philosoph Matthew B. Crawford eine „Ethik der Aufmerksamkeit“. Verbringen wir unser Leben mit all den Informationsquellen, Programmen, Apps und Websites, weil wir sie gewählt haben, weil sie uns wirklich wichtig sind und damit Ausdruck unseres authentischen Selbst? Oder sind unsere Vorlieben am Ende nur das Ergebnis des Social Engineering, mit dem all die Daten-Konzerne unser Leben bis in die letzte Ecke durchdringen?
Crawford neigt der zweiten Auffassung zu und schlägt vor, dass wir uns das Wirkliche zurückerobern. Dass wir die Welt nicht nur beobachten, sondern in ihr handeln. Dafür reicht es nicht, an die Eigenverantwortung des Individuums zu appellieren. Um eigene Urteilskraft zu entwickeln, müssen wir zu allererst anderen Menschen stellen. Crawford vertritt die These, „dass wir durch die Begegnung mit anderen Menschen in Konflikt und Kooperation ein schärferes Bild von der Welt und von uns selbst gewinnen und beginnen können, eine unabhängige Urteilskraft zu erwerben.“ Das Ich erfährt sich nicht, indem es Informationen im Netz sammelt und daraus ein Weltbild baut. Das Ich erfährt sich durch die Begegnung mit einem konkreten Du.
Und wie entwickeln wir Autonomie? Jedenfalls nicht, indem wir eine Freiheit beschwören, die abstrakt bleibt. Wahre Autonomie erweist sich dort, wo man ein konkretes Handlungsfeld meisterlich beherrscht. Die Souveränität, selbst zu wissen, worauf es ankommt und was zu tun ist, eigenen wir uns aber paradoxerweise an, indem wir uns erstmal dem Wissen und der Meisterschaft anderer unterwerfen. Jedes Handwerk, egal ob es um die Reparatur eines Autos, das Backen eines Brotes oder den Bau eines Instrumentes geht, ist ein gutes Beispiel dafür. Ein Handwerk zwingt uns, unser Denken und Handeln zu strukturieren und den Gesetzen der Materie anzupassen. Und es sind immer andere Menschen, die uns zeigen, wie das geht.
Wenn wir mit anderen einer gekonnten Praxis nachgehen, sagt Crawford, entwickeln wir Urteilskraft. Wenn es uns auf diese Art gelingt die Welt außerhalb unseres Kopfes zu begreifen, machen wir die Erfahrung, Teil einer Welt zu werden, die unabhängig von unserem Selbst ist. Das ist wahre Persönlichkeitsentwicklung, oder? mkh
Matthew B. Crawford: Die Wiedergewinnung des Wirklichen
aus dem Amerikanischen von Stephan Gebauer
Ullstein Verlag, Berlin, 2016,
So verhandelt man heute
Kennen Sie das? Sie kommen schlecht gelaunt aus einer Verhandlung, denn Sie haben sich lange und gut vorbereitet, aber die Verhandlung war leider schwierig und das Ergebnis einigermaßen suboptimal ‒ wie befürchtet. Wenn Sie sich an eine solche Verhandlungssituation erinnern, verfinstert sich automatisch Ihre Miene. Denn Verhandlungen sind ein bisschen sind wie Zahnarztbesuche: Die wenigsten Menschen freuen sich darauf.
Fast möchte man sagen: Bei Verhandlungen liegt das in der Natur der Sache. Wenn es darum geht, seine eigenen Positionen durchzusetzen, dann muss oft darum gerungen oder gar gekämpft werden ‒ und Kampf macht nur wenigen wirklich Spaß. Es gibt noch einen weiteren Grund, warum viele Menschen nicht gerne in Verhandlungen gehen: Man hat kein gutes Gefühl. Entweder weil man befürchtet, vom Gesprächspartner zu ungewollten Zugeständnissen überredet zu werden. Oder weil man ein schlechtes Gewissen hat, da man selbst zu dem ein oder anderen unfairen Trick greift, um zu erreichen, was man möchte.
Doch das muss nicht so sein. In dem (wissenschaftlich ausgezeichnet fundierten) Buch Happy Happy von Lars-Johan Åge wird aufgezeigt, wie man konsequent verhandeln kann und dennoch glücklich dabei bleibt.
Fernab von esoterischen „Guter-Mensch-Appellen“ zeigt das Buch auf, wie man mithilfe von Positiver Psychologie gemeinsam mit dem Gesprächspartner deutlich bessere Ergebnisse erzielt. Anfänglich war ich über die Aussage von Herrn Åge verwundert, dass seine Methodik das positive Ergebnis einer nach dem Harvard Negotiation Principle geführten Verhandlung, die Win-win-Situation, sogar noch überträfe. Nach der Lektüre des Buches wurde mir klar, Happy Happy geht tatsächlich über den bekannten Ansatz eines größtmöglichen beiderseitigen Nutzens hinaus. Lars-Johan Åge setzt auf das gezielte Übertragen der eigenen guten Stimmung auf den Anderen, auf einen Empathie-Einsatz weit über das übliche Maß hinaus und auf den Aufbau einer langfristig guten Beziehung ‒ auch nach der Ergebnisfindung. Er empfiehlt, diesem Konzept von Anfang an konsequent zu folgen. Das Wort „Happy“ steht hier also nicht nur als ein Synonym dafür „Freude zu empfinden“, sondern für ein einen höheren Grad von Zufriedenheit und das Bewusstsein, dass die Verhandlungssituation sinnvoll investierte Zeit für beide Parteien ist. Und wenn Sie jetzt glauben: „Nein, in meinen Verhandlungen wird das nicht klappen… !“, holen Sie sich das Buch und probieren Sie es doch einfach mal aus. Vielleicht entdecken Sie anschließend bei einem Blick in den Spiegel, dass auch Sie ein glückliches Gesicht machen? ml
Lars-Johan Åge: Happy Happy
Campus Verlag, Frankfurt, 2020, 221 Seiten
Aufbruch wagen
An einem Herbstsonntag saß ich allein im Auto auf dem Rückweg von einem Seminar. Eigentlich wollte ich beim Autofahren ausspannen und etwas leichte Musik hören. Ich suchte im Radio und landete in der Live-Übertragung der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Amartya Sen. Ich blieb auf dem Sender, hörte mir die Laudatio, die Dankesrede von Amartya Sen und ein Feature zu seinem Leben an. Sein Werk hatte ich bis dahin nicht weiter beachtet.
Am nächsten Tag ging ich in die Buchhandlung, kaufte Bücher von ihm und begann das Buch Die Idee der Gerechtigkeit zu lesen. Mit dem ersten Satz seines Vorwortes erreichte mich Amartya Sen sofort: „In der kleinen Welt, in der Kinder leben, gibt es nichts, was sie so feinsinnig aufnehmen und empfinden wie Ungerechtigkeit.“ zitiert er aus dem Roman Große Erwartungen von Charles Dickens. Doch er bleibt nicht bei diesem kindlichen Empfinden stehen, sondern schreibt gleich drei Sätze später: „Nicht die Erkenntnis, dass die Gerechtigkeit auf der Welt unvollkommen ist ...., treibt uns zum Handeln, sondern die Tatsache, dass es in unserer Umgebung Ungerechtigkeiten gibt, die sich ausräumen lassen und die wir beenden wollen.“
Der Geist der Aufklärung ist der Boden, auf dem Sen steht und er zeigt auf, dass dieser Geist nicht nur einer europäischen Epoche entstammt, sondern sowohl ein globaler, als auch ein sehr alter Menschheitsgedanke ist. Diesen Geist beschwört und belebt er in seinem Buch immer wieder.
„Jede substantielle Theorie der Ethik und der politischen Philosophie, vor allem jede Theorie der Gerechtigkeit muss einen Informationsschwerpunkt auswählen, das heißt, sie muß entscheiden, auf welche Merkmale der Welt wir uns bei der Beurteilung der Gesellschaft und der Einschätzung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit konzentrieren sollten.“
Den Capability-Ansatz, den Amartya Seen entwickelt hat und den er zu seinem Informationsschwerpunkt ausgewählt hat, nachzuvollziehen, erfordert genaues Lesen.
Vier Faktoren, so sagt er, müssen zueinander in Beziehung gesetzt werden: Unser individuelles Wohlergehen, unsere persönlichen Fähigkeiten, Verwirklichungs-Chancen und die Freiheit, sie zu nutzen.
In seinem Buch macht er immer wieder deutlich, dass es ihm nicht nur um theoretische Konstrukte geht, sondern um konkrete gesellschaftliche Umstände und die Frage, wie wir sie im Sinne einer Idee von Gerechtigkeit in einem offenen Diskurs gestalten.
Voraussetzung für einen solchen Diskurs ist für ihn eine demokratische Gemeinschaft. Demokratie begreift er als „Regierung durch Diskussion“.
Amartya Sen bietet in seinem Buch kein geschlossenes System an. Er macht es uns als Lesende nicht leicht. Er fordert uns zum Denken und zum Handeln auf. In einer Zeit voller Unsicherheiten weist er aber einen Weg auf. Ein hoffnungsvolles Buch. tk
Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit
C.H.Beck 2020, 496 Seiten